"Die Blechtrommel" im Thalia-Theater
Alternde Trommlerin - Günter Grass' "Blechtrommel" am Thalia-Theater
von Christian Fürst, nmms
Als Günter Grass im Jahr 1959 seinen Roman "Die Blechtrommel" veröffentlichte, brach unter den deutschen Moralaposteln ein Sturm der Entrüstung los. 14 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs empörten sich Konservative und Kirchen über die Schilderungen dieses in einer besonders kraftvollen Sprache verfassten Werks, in dem der freiwillig klein gebliebene Oskar Mazerath zum Zeugen der Wirren zwischen den beiden Weltkriegen wird.
Jetzt wurde der spannende Stoff aus dem Gebiet um Danzig, der Grass letztlich den Nobelpreis für Literatur bescherte, von Luk Perceval auf der Bühne des Hamburger Thalia-Theaters in Szene gesetzt. Doch von der Kraft der Grass'schen Sprache und Erzählung, die in Volker Schlöndorffs Oscar-gekröntem Spielfilm noch so deutlich wird, ist in der etwas mehr als zweistündigen Inszenierung nicht viel geblieben.
Das kleine "Oskarchen" ist alt geworden: Barbara Nüsse in der Hamburger "Blechtrommel"
Perceval lässt die Geschichte des kleinen Blechtrommlers von einem Kind lesen. Die exzellenten Schauspieler agieren dazu eher wie Pantomimen. Und aus dem (politisch unkorrekten) kleinwüchsigen Oskarchen, der als Trommler die vielen Missstände seiner Zeit und seines Lebenskreises anprangert und als Glas-sprengenden Protest herausschreit, wird die eigentlich großartige Schauspielerin Barbara Nüsse, die während des ganzen Stücks kaum redet und nur gelegentlich krächzt und quietscht, um - wie der echte Oskar - Glas zerplatzen zu lassen, fast zu einer Statistin.
Grass-Meisterwerk als Quasi-Erzählung auf der Bühne
Als wir Teenager waren, verschlangen wir "Die Blechtrommel" förmlich. Es waren die frühen Jahre der anti-authoritären Bewegung und auch unserer Auflehnung gegen die Generation des Krieges und der Nazi-Mitläufer, und wir debattierten Grass und seine Danziger Trilogie, und wir freuten uns über die Empörung, die der schnauzbärtige Schriftsteller mit seinem großartigen Erzähl-Stil unter den altvorderen entfachte. Von dieser Grass-schen Lust des Erzählens - man denke nur an die geniale Zeugung von Oskars Mutter unter dem verhüllenden Rock der Großmutter, oder die Brausepulver-Szenen, in denen Oskarchen letztlich zum Vater wird. Von der Großartigkeit dieses Werkes ist - wie gesagt - nicht sehr viel zu spüren in dieser Inszenierung.
"Oskarchen" bringt das Leben aller Beteiligten durcheinander
Affairen und Oskars Brause-Abenteuer
Alles in allem, so resummierten die meisten Kritiken, fehlten dem Bühnenstück ein wenig die Höhepunkte, die zum Beispiel die Oscar-würdige Verfilmung der Oskar-Geschichte höchst unterhaltsam machten. Und so schrieb etwa "Spiegel Online" zur Aufführung: Davor schimmerte Luk Percevals Literatur-Bearbeitung nicht ganz so glanzvoll. Auf knappe zwei Stunden heruntergekürzt segelte seine "Blechtrommel" in recht ruhigen Gewässern. Jede Menge weiße Wäsche hing über die gesamte Bühnenhöhe, das erinnerte an ein Schiff, dessen Takelage bei den berühmten, glassprengenden Oskar-Schreien stets wie von einem Sturm gebläht in rasante Bewegung geriet. Man konnte die Wäschestücke und Fetzen auch als Glasscherben übersetzen, wenn einem nach bildkräftigen Symbolen war. Noch einen drauf setzte Luk Perceval mit Textprojektionen auf die Walla-Wäsche, falls im Publikum jemand dem überaus klaren Vortrag des Lese-Genies David Hofner nicht recht folgen konnte. Ein Hauch von Volkshochschule wehte nicht nur einmal über die Bretter.
Oskars lustvolles Brause-Schlecken macht ihn zum Vater
Und das Hamburger Abenblatt fasste zusammen: ""Gibt es nicht mehr genug Stücke? Wohl kaum. Regisseur Luk Perceval hat sich also den lebensprallen, geschichtsträchtigen Roman "Die Blechtrommel" für seine Inszenierung vorgenommen, um ihn nun am Thalia Theater als graumäusige Version eines Ausgestoßenen und Verstörten zu erzählen. Sechs Schauspieler singen oder verstecken sich hinter der weißen Wäsche, die Annette Kurz ins Zentrum ihres Bühnenbildes hängt. Wie lebendig und lebensprall Grass' Text dagegen ist, hört man lange Zeit über die Tonanlage, dort, wo der junge David Hofner wunderbar moduliert und bildhaft den Roman vorliest. ... Aber was ist das für ein Theaterabend, an dem ein von einem Kind im Off vorgelesener Text das herausragende Ereignis ist? Kein aufregender, kein anregender jedenfalls."
Die Gaukler: Oskar unter Gleichgesinnten
Des alten Oskars einziges Talent scheint das Trommeln und die Zersplitterung von Glas mit mühsamem Kreischen
Ein "Hörspiel" auf der Bühne?
Dass am Ende Ehrengast Günter Grass meinte, ihm sei während des Stückes gar nicht mehr bewusst geworden, dass er der Autor war... könnten Kritiker durchaus falsch verstehen. Auch die "Frankfurter Rundschau" meinte: "Meist bleibt die Inszenierung starr, offenbart vor allem die Ratlosigkeit, eine eigene Sprache zu finden. Wobei sich das Ensemble, und das ist das eigentlich Traurige, die Seele aus dem Leib spielt. Perceval hat, so sagt er, das Schweigen des Außenseiters Oskar fasziniert. Und er hat sich offenbar darin festgebissen, ausgewählte Szenen auf dürre Sätze einzudampfen, sie mit traurigem Acappella-Gesang zu kommentieren. Deutsche Volkslieder, Zarah Leander, Lale Andersen, alles schön schräg in Moll gesetzt von den Musikern Lothar Müller und Martin von Allmen. Die Dynamik eines großen Bühnenwurfs ist dabei auf der Strecke geblieben. Dafür ist fast ein Hörspiel entstanden."
Nur traurig oder zornig: Barbara Nüsse als Oskar
Alle kritiker scheinen übereinzustimmen, dass der Höhepunkt des Abends eigentlich die Vorlesekunst des jungen David Hofner war, der "wunderbar moduliert und bildhaft" (Abendblatt) den Roman vorliest und die Schauspieler begleitet. "Aber (so schließt das Abendblatt) was ist das für ein Theaterabend, an dem ein von einem Kind im Off vorgelesener Text das herausragende Ereignis ist? Kein aufregender, kein anregender jedenfalls."
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