Woche 38 Volkslatein in den Dolomiten

 Sprachinsel der Glückseligen

oder Ladinisch für Anfänger

 

Auf dem Weg von La Val zu den Almwiesen von Armentara, hoch über dem Tal der Gader, begegnen mir zwei Wanderer. Mann und Frau sind etwa gleichaltrig. Ich begrüße sie freundlichst mit einem "Bun domisdé". Der Mann schaut mich entgeistert an und fragt nicht sehr höflich: "Was wollen sie". Als ich ihm erkläre, dass ich ihm in der Landessprache einen schönen Nachmittag gewünscht habe, schaut er kopfschüttelnd seine Partnerin an und geht grußlos weiter. So kann es einem ergehen, wenn man selbst im Herzland der Ladiner versucht, wenigstens ein paar Brocken dieser urigen, Altlateinischen Sprache zu sprechen.

           

Ladinisch ist eine Sprache, eine sehr lebendige Art Volkslatein, dem Rätoromanischen nicht unähnlich, wie es in Graubünden als vierte Amtssprache der Schweiz neben Deutsch, Französisch und Italienisch gesprochen wird. Wie die Graubündner einen eigenen Kanton zuerkannt bekamen, verfügen die etwas mehr als dreißigtausend Ladiner über Minderheitenschutz. Ihr Sprachgebiet ist allerdings aus politischen Gründen auf drei Regionen verteilt: Südtirol, Trentino und Venetien. Wirtschaftlich geht es den Menschen hier gut bis sehr gut, zieht doch die gewaltige, und gewaltig schöne Bergwelt sommers wie winters Hunderttausende in ihren Bann. Das Gebiet um den Sellastock, das Grödner- und Fassatal und nicht zuletzt das Gader- auch Abteital genannt wirken wie Magneten auch oder insbesonders auf jene Menschen, denen all zu viel Trubel an den Pisten und Hängen zuwider ist. Dass den Menschen ihre Sprache wichtig und lieb ist fühlt und hört man, denn aller Orten erklingt Ladinisch - im öffentlichen wie im privaten Leben. Hier ist nichts aufgesetzt. Auch wenn an Sonntagen Kirchgänger in Tracht erscheinen, Männer in knallroten Saccos und halblangen Lederhosen, Frauen in bodenlangen, wehenden Kleidern, dann hat das nichts mit Touristenspektakel zu tun, es ist gelebtes und geliebtes Brauchtum. Und schön anzusehen ist es auch...

    

Schicksale

Sie wurden nicht alt, viele starben am Tag ihrer Geburt, manche ein paar Tage oder auch Wochen später. Friedhöfe, in Südtirol meistens Kirchhöfe, sind beredte Spiegel bäuerlicher Kultur. Sie zu besuchen, kann lehrreich sein, wie der Gang in ein Museum. Aber auch traurig stimmen. Während aus der Hauptkirche in St. Leonhard gedämpft Stimmen zu hören sind, abgewechselt von Gesängen und Orgelspiel, stoßen wir auf einen Kirchhof im Kirchhof - seine Gräber und Grabmale sind wie Miniaturen. Eng liegen sie beieinander, bilden eine eigene Welt im Reich der Verstorbenen. Ihrer wird gedacht, denen nicht viel Zeit vergönnt war im Diesseits. Doch wer gedenkt noch der Mütter, ihres Leids, das wieder unter Erde betten zu müssen, das sie neun lange Monate  unter dem Herzen trugen, voller Vorfreude, es unter Schmerzen zu gebären - um es wieder zu verlieren. Und man schaudert, wenn auf einem der kleinen Kreuze oder Grabsteine nur ein Datum angegeben und die Zeile "nato e morto" - geboren und gestorben... Und es gibt einen Friedhof, dort liegen zehn Geschwister in einem Grab - alle innerhalb von zehn Jahren gestorben. Welche Männer hatten diese Mütter.

      

Ein rührend naives Gemälde am Eingang der Kirche macht den Versuch, die Welt des Schmerzes angesichts des Todes, Emotionen und Hinwendung zu Gott darzustellen. Gesten und Mimik sind aber nicht nur voller Gottvertrauen - es schwingt auch ein wenig Wut und Verzweiflung mit.

Mehr zu Sprache und Kultur der Ladiner findet sich hier:http://www.micura.it/de/taetigkeit/woerterbuecher

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Begegnung mit Guido Anton Muss

oder: Zufälle regieren das Leben

 

 

Vor vielen Jahren stand AP in Bozen am Eingang zu den Lauben vor einer Bronzeplastik. Eine Echse klettert an einem Stier empor, von dem nur der Kopf halbnaturalistisch ausgeführt ist. Die Photographie dieses Kunstwerkes, in die "fotocommunity.de" eingestellt, fand großen Anklang. Den Künstler konnte ich damals nicht benennen.

          

Wer sich von Norden aus dem Pustertal oder schöner noch von Westen über das Würzjoch entlang der mächtigen Steilwände des Peitlerkofels ins Gadertal Serpentine für Serpentine vortastet, kommt nach wenigen Kilometern zum Castel di Ton. Die Plastik eines Pferdes aus Holz, im Vorbeifahren aus den Augenwinkeln wahrgenommen, weckt Neugier. Die nächste Wendenmöglichkeit wird wahrgenommen. Ein moderner Anbau bietet einer kleinen Bar Platz. Hier werden Tische im Freien gedeckt für eine Hochzeit inmitten noch immer dunkelgrüner Wiesen mit einer Aussicht, die den Hochzeitern sicherlich haften bleibt, selbst wenn die Ehe nicht lange halten sollte. Alle sind gut beschaftigt,  doch den Reisenden wird der Cappuccino nicht verwehrt. Ein kleiner Bummel durch das Gebäude führt in einen Raum im Eingangsbereich und auf eine Empore zu einer Ausstellung, deren Exponate staunen lassen. 

Die Tage nach der Begegnung mit den Menschen aus Holz führten immer wieder ins Internet, um mehr über den Künstler zu erfahren. Einiges, jedoch eher Spärliches zur Biographie war da zu finden. Sicherlich, manche Figuren sind stilistisch sehr gefällig ausgeführt - doch immer Kunst. Auch ein Bruno Bruni wird nicht totgeschwiegen, nur weil er gefällig, eingängig, ja fast populistisch malt. Es musste andere Gründe geben, warum die Szene sich Muss nicht zuwendete.

2002 schafft Guido Anton Muss im Auftrag der Raiffeisenkasse Bozen sein letztes Werk: "Toro". 

Er und seine Echse sind am Eingang der Lauben in Bozen zu finden."

Es muss Zufall Nummer zwei oder eine glückliche Fügung gewesen sein. Auf der Suche nach einem speziellen Liqueur namens "Alchermes" trieb es uns spät am Abend noch einmal in die Seilbahn und ins Tal nach Bozen. Fehlanzeige auf dem Markt, in sämtlichen Weinbars und -geschäften. In Lebensmittelgeschäften hatten die Menschen von Alchermes noch nie etwas gehört. Ein mir bekanntes exzellentes Delikatessenparadies hatte in den Lauben längst die Regale geräumt, um einem mehr oder weniger mondänen Klamottenladen zu weichen. Nur die Athesia-Buchhandlung zeigte noch Flagge. Dort, wo Kultur zu Hause ist, sollte man wissen, wo Alchermes zu finden ist - meinte ich, und tatsächlich empfahl frau mir ein Geschäft in einem Verbindungsgang zu den Lauben. Nie war mir der Sinn des abgedroschenen Spruches "Der Weg ist das Ziel" bewußter geworden, als an diesem Abend. Zwar fanden wir keinen "Alchermes", doch führte der eingeschlagene Weg, einem glücklichen Umweg gleich, zu einer Galerie. Durch Bogenfenster fiel der Blick in ein imposantes  Gewölbe im Souterrain. Sparsam aber warm beleuchtet, strahlten uns Werke von Guido Anton Muss entgegen wie wiedergefundene, verloren geglaubte Söhne und Töchter. Im Inneren wurden wir reserviert, sehr reserviert sogar, von einem Herrn und zwei Damen empfangen aber kaum begrüßt. Erst als wir bereit waren, ins Italienische zu wechseln, zeigte man sich aufgeschlossener. Wir berichteten von dem Besuch des Castel di Ton, der Internetsuche und vor allem der Faszination, die wir beim Anblick und beim Betasten der Plastiken empfunden hatten. "Politik" war die bündige Antwort auf die Frage, warum es so wenig über Muss im Netz gebe. Mehr wollte der distinguierte Herr nicht sagen. Wärend wir uns enthusiastisch über die Exponate äußerten, saß die ältere der beiden Damen an einem kleinen Tisch und zeigte Rührung.  Sie wurde uns später als Frau Mussner vorgestellt.  Ihre überaus feinen Gesichtszüge glichen denen einer wunderbaren Bronzeplastik, die direkt hinter ihr stand (s.u.). Der Vater von Guido Anton Muss war von den Faschisten gezwungen worden, seinen Namen von Mussner in Mosna zu ändern. Aus dem später wieder zurückgeführten originalen Familiennamen leitete Guido Anton dann seinen Künstlernamen ab: G.A.Muss. Mussner heißen seine Frau und seine Tochter - die zweite Frau im Raum - oder sind es nicht noch viele mehr.  

copyright beim Verlag

Titelbild  zur Präsentation des Buches : "Guido Anton Muss - Uno Sguardo Altrove" 

Siehe auch:  http://guidoantonmuss.com/

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Wehe, wenn die Hänge rutschen...

 

Es sind nur noch wenige Tage bis zum Weihnachtsfest des Jahres 2012. Auf der Straße entlang der Gader bemerkt ein Autofahrer ungewöhnliche Risse in der Teerdecke. Er meldet seine Beobachtung der Polizei und löst eine Aktion aus, die wochenlang das Tal, die Region und Italien in Atem hält. Schön länger hatte es am Hang gegrummelt - ähnlich wohl wie anno domini 1812, als an selber Stelle der Hang ins rutschen kam. Schnell wurden zunächst die Menschen mit Hubschraubern und Pistenraupen aus bedrohten Häusern gerettet. Danach erst ging es um das Eindämmen von möglichen Folgeschäden. Die Mure wanderte in Richtung Fluß, droht einen Damm zu bilden hinter dem sich die Wasser stauen würden. Kläranlagen mussten von zehntausenden Liter giftiger Flüssigkeiten geleert werden - schier pausenlos fuhren Tanklastwagen mit gefährlicher Ladung durch die Täler, von denen Winterurlauber bereits Besitz genommen hatten.

          

Zehn Monate danach sind Verbindungsstraßen noch immer unpassierbar, ist die Optik eines idyllischen Tales nachhaltig gestört. Hinter vorgehaltener Hand sprechen Bewohner von Bausünden, von Eingriffen in die Wasserführungen, die den Hang aufgeweicht hätten. Und wie die Bewohner in Erdbebengebieten ihre zerstörten Siedlungen immer wieder an der selben Stelle aufbauen, wird auch hier fleißig gehämmert und gezimmert und der Fotograf skeptisch beäugt und befragt. Gerade so, als habe man kein ganz sauberes Gewissen.

Zu den Ereignissen im Dezember 2012 exemplarisch ein Bericht aus der Lokalpresse: 

http://www.pzpz.it/download/2012/25_2012/Hang%20des%20Verderbens.pdf

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Berge, Täler, Almen und Vliese

Kleinod La Val

Eng drücken sich die Höfe aneinander als könnten sie sich gegenseitig schützen. Die Wohnhäuser sind von den Stallungen, Scheunen und Wirtschaftsgebäuden getrennt gebaut. So besteht wenigstens eine kleine Chance, dass bei einem Feuer nicht alles auf einmal vernichtet wird. Auf steinernen Sockeln werden die Gebäude aus Holz errichtet. Braungebrannt ist es durch die Sonne, die Jahrzehnte, in manchen Fällen auch Jahrhunderte auf Balken und Bretter schien. Zu Paaren oder auch kleinen Gruppen haben die Bauern ihre Höfe angeordnet. Es ist dies die uralte Siedlungsform der Rätoromanen. Vlies wird sie hier genannt. 

                      

Wo die Natur vielfach auch sehr streng mit Mensch und Vieh umgeht ist fest der Glaube. Und so findet sich kaum ein größeres Vlies ohne Kapelle oder gar Kirche. Manche haben sich zu Orten der Wallfahrt entwickelt. Faszinierende Spiegel jahrhundertealter kultureller Entwicklung, oft Kleinodien der Kulturlandschaften, die sie prägen und schmücken. Ihre Türen und Tore stehen dem Gläubigen offen aber auch dem Kulturbeflissenen. Dass sie nicht wie in unseren Städten aus Furcht vor Kunsträubern und Vandalen verschlossen sind - es ist ein positiv stimmendes Zeichen in dieser Welt. 

 Nirgendwo, so scheint es, findet sich so viel Ladinien pro Quadratkilometer wie im Bereich von La Val - Wengen. Vor einem Jahr berichtete AP über drei musikalische Botschafterinnen, die aus diesem Dorf stammen, dessen Ortskern nicht unbeingt schön zu nennen ist. Jeder hier kennt "Ganes". Im Tourismusbüro zeigt sich die aparte und sehr hilfsbereite Mitarbeiterin stolz, aus La Val zu stammen und an Weihnachten mit den zwei Schwestern und ihrer Cousine aus der Gruppe "Ganes", den Wasserhexen, Musik machen zu können. Ladinisch ist wohl doch nicht nur die Zugehörigkeit zu einem Sprachkreis, es ist wohl mehr ein Lebensgefühl - ein auffällig, spür- und hörbar gutes...

 

"Ganes" in Hamburg finden Sie in der Chronik der 46sten Woche des jahres 2012: 

http://newsandmore-mediaservice.de/pages/andreas-pawlouschek/wochenchronik-2012/woche-46-feengesang.php

 

Sämtliche Bilder und Texte copyright Andreas Pawlouschek, NewsAndMore-Mediaservice, 2013