Nahost

 

Heimfahrt in den Tod

 Jerusalem/Gaza . Die Saat der Gewalt ging früher auf, als selbst die schlimmsten Pessimisten es befürchtet hatten: Nur einen Tag nach dem gescheiterten israelischen Angriff auf den militanten Hamas-Führer Abdel Asis Rantisi in Gaza sprengte sich ein palästinensischer Selbstmordattentäter am Mittwochnachmittag in einem vollbesetzten Linienbus mitten in Jerusalem in die Luft und richtete ein Blutbad an. 16 Israelis starben mit dem jungen Mann, der sich als ultraorthodoxer Jude „getarnt“ hatte. Dutzende erlitten zum Teil verheerende Verletzungen. Der Anschlag ereignete sich im nachmittäglichen Berufsverkehr in einem Bus in der Jaffa-Straße, einer Hauptverkehrsstraße Jerusalems.

 

Die Explosion riss ein großes Loch in die linke Seite des Fahrzeugs, das gerade den zentralen Busbahnhof verlassen hatte. Augenzeugen berichteten, nach der Detonation seien Menschen durch die Luft geflogen. Die Passanten in der Nähe liefen verwirrt und schockiert umher. „Die Leute waren in einem furchtbaren Zustand, sie wurden überall hingeschleudert“, sagte ein Augenzeuge. „Wir können so nicht weiter machen. Es ist eine Katastrophe.“

Die Reaktion Israels war kaum weniger verheerend. Zwei Apache-Helikopter feuerten, wieder mitten in Gaza, vier Raketen auf das Auto zweier Hamas-Aktivisten. Mit ihnen starben mehrere Passanten.

 

Nur eine Woche nach dem Nahostgipfel von Akaba sind die schönen Absichtserklärungen der Konfliktgegner damit bereits zu Makulatur geworden. Die Kettenreaktion der Gewalt, die bereits mehr als 2300 Palästinenser und über 700 Israelis das Leben gekostet hat, ist erneut außer Kontrolle geraten. Nach dem gezielten israelischen Angriff auf Hamas-Führer Rantisi brauchten die Extremisten ganze 24 Stunden, um ihren „zionistischen Feind“ mit aller Härte zu treffen. Die Hamas hatte noch am Dienstag blutige Rache angekündigt. Rantisi war bei dem Raketenangriff verletzt worden. Mahmud Sahar, ein Hamas-Führer, erklärte, der Anschlag in Jerusalem sei eine „Botschaft an alle zionistischen Verbrecher, dass sie nicht sicher sind“.

 

Israels Ministerpräsident Ariel Scharon ließ sich auch durch die deutliche Kritik von US-Präsident George W. Bush am Vorgehen seiner Armee nicht einschüchtern: Es sei allein „Israels Sache, zu entscheiden, welche Schritte im Kampf gegen den Terror nötig sind“, sagte er am Mittwoch vor seinen Ministern. Den Vorwurf, dass der höchst umstrittene Raketenangriff gegen Hamas-Führer Rantisi den kaum in Gang gesetzten Friedensprozess im Keim erstickt hat, will Scharon nicht gelten lassen. „Die gestrige Sicherheitsaktivität“, so hieß es in einer Erklärung, „war ein Test der Glaubwürdigkeit dieser Regierung und ihrer Erklärungen“.

 

Da nützte es nichts, dass der stark geschwächte palästinensische Ministerpräsident Mahmud Abbas Scharon in Akaba um eine militärische Atempause gebeten hatte, um eine Waffenruhe mit den schwer bewaffneten Extremistengruppen auszuhandeln.

 

Selbst US-Präsident Bush, so berichtete die Tageszeitung „Haaretz“ am Dienstag unter Berufung auf einen Gipfelteilnehmer von Akaba, habe die Israelis vergeblich gedrängt, dem von seinen Landsleuten fast als Verräter eingestuften Abbas durch militärische Zurückhaltung beizustehen. Stattdessen gab Scharon den Befehl zur Liquidierung von Hamas-Führer Rantisi. Auch nach dem Anschlag am Mittwoch betonte Scharon noch einmal, Israel werde die Verfolgung militanter Palästinenser fortsetzen – ohne die Bemühungen um einen Frieden aufzugeben, wie er sagte. „Der israelische Staat wird die palästinensischen terroristischen Gruppen und ihre Anführer im vollsten Umfang weiter verfolgen“, erklärte der Premier. Auch Hamas-Gründer Ahmed Scheich Jassin stehe jetzt auf der Todesliste der Israelis, ließ die israelische Armee wissen.

 

Was die rechts-dominierte Regierung Scharon mit dieser Politik erreichen will, ist noch nicht zu übersehen. Das Ergebnis ist dagegen klar. Die Bemühungen von Mahmud Abbas, sein Volk von der Notwendigkeit der Beendigung der bewaffneten Intifada zu überzeugen „haben einen kräftigen Schlag ins Gesicht erhalten“, meinte „Haaretz“ am Mittwoch. Die Raketen, die einen allzeit gewaltbereiten Hamas-Führer tötet sollten, hätten in Wirklichkeit Abbas und auch den amerikanischen Präsidenten Bush getroffen. Israel, so resümierte das kritische Blatt, „hätte den Gegnern des Nahost-Fahrplans gar nicht besser in die Hände spielen können“.

                                                                    


 

"Schwarze Nacht, heilige Nacht": Bethlehem trägt zu Weihnachten Trauer

 Bethlehem - Weihnachten in Bethlehem steht in diesem Jahr ganz im Zeichen der israelischen Besatzung. Feiern werden abgesagt, und die Strassen bleiben am heiligen Abend dunkel. In diesem Jahr singen wir "Schwarze Nacht, Heilige Nacht", kündigt Bürgermeister Nasser an. Ein Bericht von Christian Fürst (dpa):

 

Kalter Winterwind fegt über den verlassenen Krippenplatz. Schwarzgraue Wolken hängen tief über der Geburtsstadt Jesu. Immer wieder ergießen sich die Wassermassen schwerer Wolkenbrüche über die gepflasterten Straßen der Altstadt. "Es wird ein trauriges Weihnachten werden", ahnt Hana Nasser, der christliche Bürgermeister Bethlehems. "Von einem "Christfest" wollen wir gar nicht reden."

 

Aus Protest gegen die israelische Besatzung hat Nasser sämtliche Feiern abgesagt. Kein einziger Weihnachtsbaum schmückt den Krippenplatz. Die Lichterketten wurden in diesem Jahr nicht aufgehängt. Die Straßen werden in der Heiligen Nacht dunkel bleiben. Zahllose Straßenlaternen, die israelische Panzer bei ihrem ersten Einmarsch im April zum Teil mutwillig umrissen, konnten nicht repariert werden. "In diesem Jahr singen wir "Schwarze Nacht, Heilige Nacht", kündigt Bürgermeister Nasser mit bitterer Stimme an. "Nie zuvor hat Bethlehem ein schrecklicheres Weihnachten erlebt."

 

Seit April stand die kleine Stadt, in der nur noch etwa 10.000 Christen leben, mehr als vier Monate unter israelischer Besatzung. Die schlimmste Zeit erlebte sie nach dem Einmarsch im April, als Soldaten wochenlang die Geburtskirche belagerten, in der sich militante Palästinenser hinter gläubigen Christen verschanzt hatten. Viele neue Gebäude und Hotels wurden bei heftigen Gefechten durch Panzerartillerie zerstört. Sechs Wochen nach dem israelischen Rückzug Anfang Mai dann die erneute Besetzung, die dieses Mal zwei Monate dauern sollte. Am 22. November schließlich drangen die Panzer wieder in die Stadt ein. Jedem neuen Einmarsch waren palästinensische Terroranschläge in Israel mit Dutzenden Opfern vorausgegangen.

Panzer gehören zum Stadtbild

 

Seit der letzten Invasion behält die Armee einen eisernen Griff über die Stadt. "Im Gegensatz zu den Erklärungen der Regierung im Ausland haben sich die Soldaten nicht zurückgezogen", klagte Bürgermeister Nasser. "Panzer fahren weiter durch die Stadt, auch über den Krippenplatz." Ausgangssperren werden kurzfristig verhängt, bleiben tagelang bestehen. "Doch wer dagegen verstößt, begibt sich in Lebensgefahr", klagt Mitri Raheb, Pastor der Weihnachtskirche, dem die Besatzung einen Riesenstrich durch seine Weihnachtspläne gemacht hat.

 

"Wir wollten ein neues internationales Konferenz- und Begegnungszentrum einweihen, das wegen der Besetzung nicht fertig wurde". Vor allem aber wollte die Kirche sich um die vielen Armen in der evangelisch-lutherischen Gemeinde kümmern. "Wir wollten in den nächsten Tagen 30 arme Familien besuchen und planten eine große Aktion für Kinder mit Geschenken. Aber das ist jetzt alles nicht möglich".

 

Unter den Christen Bethlehems ist die Zahl der Armen besonders hoch, die Arbeitslosigkeit überproportional groß. "Bethlehem lebt zu 65 Prozent vom Tourismus, und der ist seit Beginn der Intifada vor 27 Monaten tot", sagt Hana Nasser. "96 Prozent des Geschäfts sind aber in christlicher Hand: Hotels, Restaurants, Andenkenläden und natürlich alle Reiseführer." Etwa 1500 Christen aus den drei kleinen Städten Bethlehem, Beit Sachur und Beit Dschalla haben angesichts der trostlosen Lage ihre Sachen gepackt und sind ausgewandert. Sie wollten kein weiteres Weihnachten in Hoffnungslosigkeit verbringen.

 

Doch für viele Christen ist Weihnachten in Bethlehem mehr als ein christliches Fest. "Weihnachten ist ein nationales Fest für alle Palästinenser Bethlehems", meint die Christin Abir Sansur. Sie fordert einen offenen Boykott und "bürgerlichen Ungehorsam" gegen die verhassten Besatzer. "Wir werden der Welt kein feierndes Bethlehem zeigen." Stattdessen sollten die Menschen zu einer Demonstration auf den Krippenplatz kommen, Protestzelte aufstellen. Zwei Stunden lang sollten alle Lichter der Stadt ausgehen.

 

Auch Josef Talijeh, der mit seiner Familie in unmittelbarer Nähe des Krippenplatzes lebt, ist strikt gegen alle Feste. Talijeh, dessen 16-jähriger Sohn vor einem Jahr auf dem Krippenplatz vor der Geburtskirche von israelischen Soldaten getötet wurde, will nicht einmal zu Hause feiern. "Feste sind etwas für fröhliche Menschen. Wir haben keinen Grund zu feiern. Dieses Jahr gibt es nicht mal einen Kuchen zum Fest. Meine Tochter wünschte sich neue Kleider, aber die können wir uns nicht leisten. Wir werden aus Protest gegen Israel nicht zur Messe gehen, selbst wenn sie die Ausgangssperre aufheben.

Wir trauen den Israelis nicht. Wir beten zu Hause."

 

                                                                       

 


 

Camp David: Angriffe von Palästinensern befürchtet

Die israelische Armee bereitet sich nach dem Scheitern des Nahost-Gipfeltreffens von Camp David auf mögliche blutige Zusammenstöße mit palästinensischen Demonstranten im Westjordanland und dem Gazastreifen vor. Die Armeeführung hat bereits damit begonnen, jüdische Siedler in den besetzten Gebieten zu bewaffnen und an diesen Waffen auszubilden. Sie sollen sich gegen mögliche Angriffe verteidigen können, falls es nach dem Fehlschlag von Camp David und vor der erwarteten Proklamation des Palästinenserstaates Mitte September zu Ausschreitungen kommt.

 

Schon unmittelbar nach den blutigen Unruhen im Westjordanland Mitte Mai begann die Armee mit der "Aufrüstung" ihrer Truppen für eine mögliche neue Intifada (der Palästinenseraufstand zwischen 1987 bis 1994, der fast 2000 Palästinenser das Leben kostete). Spezialeinheiten wurden aufgestellt und auf den Einsatz bei Unruhen vorbereitet. Die Armeeführung hat außerdem damit begonnen, eingemottete Waffensysteme, die sie während der Intifada gegen Steine und Molotowcocktails werfende Demonstranten eingesetzt hatte, wieder zu aktivieren. Auf Berichte, wonach die Palästinenser mit Waffengewalt gegen die ihrer Ansicht nach illegalen jüdischen Siedlungen vorgehen könnten, drohte Armeechef Schaul Mofaz sogar mit dem Einsatz von Kampfhubschraubern und Panzern.

 

Bei Unruhen Mitte Mai hatten palästinensische Demonstranten und palästinensische Polizisten erstmals mit scharfer Munition auf israelische Soldaten schossen und mehrere verletzten. Die Israelis wiederum feuerten gezielt zurück und töteten dabei acht Palästinenser. Wöchentlich veröffentlicht die Presse seither Horrorszenarien der Geheimdienste, wonach Zehntausende palästinensische Polizisten insgeheim bereits zu paramilitärischen Einheiten "umgebaut" würden.

 

Palästinensische Politiker reagierten auf die israelischen Ankündigungen auf ihre Art. Palästinenser-Präsident Arafat warnte bei einer Veranstaltung von Fatah-Kämpfern, mehrere tausend Palästinenser könnten als "Märtyrer" sterben, falls die Israelis mit Gewalt gegen die Palästinenser vorgehen sollten. Arafats Jerusalem-Beauftragter Faisal Husseini hatte die Bevölkerung aufrufen, die Straßen Ost-Jerusalems zu blockieren, falls Israel mit der Macht seiner Armee eine einseitige Unabhängigkeitserklärung Arafats verhindern wolle. Doch die eskalierende Propaganda hat die palästinensische Bevölkerung bisher kalt gelassen. "Berichte, wonach die Bevölkerung Lebensmittel hortet, um sich auf einen Konflikt vorzubereiten, sind völliger Unsinn," meint der Journalist Abu-Ramadan.

Christian Fürst

 

 


 

Ringen um Frieden in Nahost: Schlüsselfrage Siedlungsbau

 US-Außenminister Colin Powell hat die Empfehlungen des früheren US-Senators George Mitchell zur Beendigung des blutigen Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern offiziell zum Programm erhoben. Doch obgleich die Palästinenser den Bericht fast enthusiastisch begrüßten und die israelische Regierung ihn mit Vorbehalten akzeptierte, stehen die Chancen für eine Umsetzung der Forderungen des erfolgreichen Nordirland-Vermittlers nicht gut. Israels Weigerung, einen vollständigen Baustopp für Siedlungen in den Palästinensergebieten anzuordnen, könnte die Mitchell-Initiative schon vorzeitig zum Scheitern verurteilen.

 

Scharon und sein Vize-Premier und Außenminister Schimon Peres erklären seit Wochen, dass die von den Palästinensern und der internationalen Gemeinschaft geforderte Beendigung des Ausbaus der jüdischen Siedlungen für sie nicht in Frage kommt. Peres tat in den vergangenen Tagen alles, um eine diplomatische Formel für einen begrenzten Baustopp zu finden, die für Jassir Arafat akzeptabel wäre. Kern des Vorschlags: Siedlungen sollten nicht mehr "nach außen" erweitert, sondern nur noch so ausgebaut werden, dass "natürliches" Bevölkerungswachstum ausgeglichen wird. Außerdem solle kein weiteres Palästinenserland beschlagnahmt werden. "Was heißt hier Baustopp", soll Scharon auf den Mitchell-Report reagiert haben: "Wer will es wagen, einem jungen Paar zu befehlen, keine Kinder auf die Welt zu bringen, nur weil sie in einer (jüdischen) Siedlung geboren werden?"

 

Für Palästinenserchef Arafat, der nach Meinung israelischer und internationaler Experten längst nicht mehr die vollständige Kontrolle über seine aufständischen Landsleute hat, dürften auch die sanftesten Kompromissformeln inakzeptabel sein. "Die Palästinenser, das liegt auf der Hand, werden alle diese Akrobaten-Kunststückchen ablehnen und als Nägel im Sarg des Mitchell-Reports bezeichnen", warnte die Tageszeitung "Jedioth Achronoth" am Dienstag.

 

Scharon, einer der ideologischen Väter der Siedlungspolitik Israels, steckt durch die Forderung nach dem Siedlungsstopp in der Klemme. Sollte er sich zu diesem Schritt bewegen lassen, riskiert er den sofortigen Austritt der rechtsgerichteten Parteien aus seiner Koalition, eine Revolte in der eigenen Likud-Partei und den persönlichen Machtverlust. Denn hinter ihm steht nach wie vor der frühere Premier Benjamin Netanjahu, der nur auf seine Chance wartet, den alten Rivalen auszubooten.

 

Doch selbst wenn es den von Powell ins Feld geschickten US-Diplomaten gelingen sollte, einen akzeptablen Kompromiss in der Siedlungsfrage zu finden, ist damit nur ein - wenn auch wesentliches - Hindernis aus dem Weg geräumt. Denn es ist ungewiss, ob es Arafat gelingen kann, die von Mitchell verlangte Waffenruhe durchzusetzen und mehrere hundert verurteilte und potenzielle Terroristen wieder zu verhaften, die er im vergangenen Oktober nach israelischem Raketenbeschuss aus den Gefängnissen entließ. Extremistische Gruppen, wie die radikal-islamische Hamas oder die islamische Dschihad (Heiliger Krieg), werden jedenfalls alles tun, um den Konflikt am Kochen zu halten.