Demokratisch oder Unsinn: Hamburgs Wahlrecht

Unsinn im Namen des Volkes? 

Der Unsinn hat Methode: Wer am kommenden Sonntag in der Hansestadt Hamburg zur vorgezogenen Bürgerschaftswahl geht, hat "endlich" nicht mehr die Qual der Wahl, denn nach dem 2009 verabschiedeten neuen Wahlrecht können Bürger in der Elbmetropole bei dem Urnengang für eine neue Bürgerschaft und für die Bezirksversammlungen insgesamt 20 Stimmen vergeben. Und dabei müssen sie sich nicht einmal auf jeweils eine Partei beschränken: Die jeweils fünf Stimmen für die verschiedenen Listen können parteiübergreifend angekreuzt werden.
 
Theoretisch kann der Hamburger Wahlberechtigte in der Kabine Vertreter von fünf unterschiedlichen Parteien gleichzeitig wählen. SPD, CDU und die Linke in einem politischen Bett??  Kein Problem: In Hamburg könnte man mit den verbliebenen zwei Stimmen auch noch Vertreter der Grünen und der FDP ankreuzen. Aber nur nicht mehr, sonst ist der Wahlzettel ungültig. Die möglichen Fehlerquellen  sind durch die komplexe Abstimmung so hoch, dass die Zahl der ungültigen Stimmen mindestens ebenso hoch sein dürfte wie 2008, als immerhin schon 3 Prozent der abgegebenen Stimmen fehlerhaft waren und damit nicht gezählt wurden.
 
                  Werbung für ein umstrittenes Wahlrecht in der U-Bahnstation Schlump
 
Doch Hamburgs Bürger dürfen sich nicht beschweren. Schließlich haben sie selbst in mehreren Volksabstimmungen und -begehren seit 2001 das vorgeblich demokratischer Wahlsystem von den Regierenden gefordert. Widerstand gegen diese üppige Form der Volksherrschaft leistet vor allem die CDU, die beim kommenden Wahlgang nach allen Umfragen die Macht verlieren wird. Sie stutzte das nach 2004 erlassene Wahlrecht im Laufe der nächsten 4 Jahre wieder zurück, wurde jedoch 2009 durch einen zweiten Volksentscheid  zu einer neuen Reform im Sinne der Initiative "Mehr Bürgerrechte - Ein neues Wahlrecht für Hamburg" gezwungen.
 
Um das völlige Wahlchaos am kommenden Sonntag zu verhindern haben sich die Verantwortlichen einiges einfallen lassen. So versandte der Landeswahlleiter in den vergangenen Wochen einen "Musterstimmzettel" mit einer Gebrauchsanleitung zur Wahl an alle Haushalte. Immerhin umfassen die Wahllisten insgesamt 75 Seiten. 71 Millionen Blatt Papier und etwa 5,5 Tonnen Druckfarbe wurden für die komplizierteste Wahl in Deutschland verbraucht, die selbst etwa das komplizierte Vorzugsstimmensystem in Irland in den Schatten stellt. "Dazu haben wir Flyer gedruckt und Aufklärungsaktionen gestartet. Auch die Medien machen da mit", meinte Pressesprecher Frank Reschreiter.
 
                  Die Qual der Wahl: fast 18 Prozent der Hamburger wählten die Briefwahl 
 
 Um die Stimmen aus insgesamt 1300 Wahllokalen auszuzählen, braucht Hamburgs Landeswahlleiter Willi Beiß allein ab Sonntag  17 000 Wahlhelfer! Die sollen versuchen, wenigstens das Ergebnis der Bürgerschaftswahl  bis um Mitternacht  am Sonntag zu ermitteln. "Wir rechnen damit, das Teilergebnis (die Bürgerschaftswahl) noch am Wahlabend zu bekommen, zumindest die Fraktionsstärke" , so Reschreiter zu  News&More. Das vorläufige Endergebnis könnte dann Mittwochnacht vorliegen. Hamburg ist mit seinem komplizierten Wahlrecht nicht allein in Deutschland. Ähnliche Wahlsysteme - wenn auch nicht ganz so kompliziert -  findet man laut Reschreiter auch in Frankfurt oder Bremen.
Experten befürchten jedoch, dass die Zahl der letztlich ungültigen Stimmen angesichts des potenziellen Wahldurcheinanders am kommenden Sonntag im Vergleich zur Bürgerschaftswahl 2008 deutlich steigen dürfte. Mit Protestkundgebungen oder etwa einer Anfechtung der Wahl rechnet man im Hamburger Rathaus noch nicht.
 
Eines hat das neue Wahlrecht bereits bewirkt. Die Zahl der Briefwähler ist höher, als bei jeder bisherigen Bürgerschaftswahl. Knapp 18 Prozent der Wahlberechtigten ließen sich das dicke Unterlagenpakete nach Hause schicken, - vermutlich um hier in Ruhe und Besonnenheit entscheiden zu können. Was aber wird geschehen, wenn die übliche Zahl der Wahlbürger am Sonntag zu den Urnen eilt und jeder von ihnen etwa 5 Minuten in der Wahlkabine verbringt?
 
Ob das System am erwarteten Ergebnis der Bürgerschaftswahl etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Nach den Umfragen ist vieles möglich, nur kein Sieg der CDU unter ihrem amtierenden Ersten Bürgermeister Christoph Ahlhaus. Denn seine Partei liegt in allen Umfragen mit etwa 23 weit hinter den bisher opponierenden Sozialdemokraten von Olaf Scholz (etwa 46 Prozent). Ob dieser die Grünen für eine Regierungsbildung braucht (Umfragen: ca 14 Prozent) hängt nicht zuletzt vom Ergebnis der FDP ab, die es trotz des heftigen Gegenwindes im Bund erstmals wieder in die Bürgerschaft schaffen könnte. Im für ihn günstigsten Fall schaffen Scholz und seine SPD sogar eine absolute Mehrheit der 121 Bürgerschaftsmandate. In diesem Fall müssten wohl auch die Grünen/GAL nach zwei Jahren schwarz-grüner Koalition wieder in die Opposition.