Historisches

 

Österreich und die NS-Zeit: Schon längst kein Opfer mehr

 Wenige Stunden vor dem 70. Jahrestag des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland trat der älteste Sohn des letzten österreichischen Kaisers ins politische Fettnäpfchen. Es gebe "keinen Staat in Europa, der mehr Recht hat, sich als Opfer zu bezeichnen, als es Österreich gewesen ist", meinte der Alt-Politiker Otto von Habsburg bei der offiziellen Gedenkveranstaltung der konservativen Volkspartei am Montag in Wien. Der Beifall der anwesenden Politiker für den greisen Europapolitiker war groß. Doch mit seiner Meinung steht der Adelige - zumindest im offiziellen Österreich - ziemlich allein.

 

Beim Thema Vergangenheitsbewältigung hat die Alpenrepublik in den vergangenen Jahren im Vergleich zum Nachbarn Deutschland aufgeholt. Zwar steht das Land nach Meinung der Historikerin Brigitte Bailer "bei der Täterforschung erst am Anfang", und die Frage der Rückgabe jüdischen Eigentums ist noch immer nicht vollständig geklärt. Doch die Legende von Österreichs Opferrolle wurde spätestens durch den sozialdemokratischen Kanzler Franz Vranitzky zerstört, der 1991 erstmals öffentlich eine Mitverantwortung für die Nazi-Gräuel einräumte.

 

Dass sich die Alpenrepublik erst spät kritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigte, ist nicht zuletzt die Schuld der Kriegs-Alliierten, die Österreich 1943 in einem Dokument als erstes Opfer der Nazi-Herrschaft bezeichneten. Auf diesem Freibrief ruhte es sich gut in Wien. Die Verfolgung von Naziverbrechern wurde bereits in den 50er Jahren praktisch eingestellt. Das Regime Hitlers wurde verurteilt, doch viele österreichische Nazis, die sich im Zweiten Weltkrieg als eifrige Gehilfen oder aktive Schreibtischtäter hervortaten, blieben auch nach dem Krieg im Amt. Durch geschicktes Verhandeln kam Wien um hohe Reparationszahlungen an Israel herum, obwohl zwei Drittel der österreichischen Juden überwiegend von Österreichern ermordet wurden.

 

Was in der Alpenrepublik zwischen 1938 und 1945 wirklich geschehen ist, "man wollte es nicht wirklich wissen", sagt heute die Historikerin Bailer. Man wollte vergessen, dass Wien schon Jahrzehnte vor den Nazis Arier-Gesetze hatte, die die Juden - zum Beispiel in der Schule - von Christen trennten. Dass schon unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht die Hatz auf Juden und politisch Andersdenkende auf Hochtouren lief und Zehntausende in KZ oder Gefängnisse gebracht, die ganze, bedeutende jüdische Geisteswelt des Landes in kürzester Zeit in die Emigration getrieben wurde.

 

Bis in die Mitte der 80er Jahre war Vergangenheitsbewältigung praktisch tabu. Der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal war der einzige Rufer in der Wüste. Doch ausgerechnet die Affäre um die verschwiegene Vergangenheit des damaligen Präsidenten Kurt Waldheim löste den Wandel aus. Mit einer von vielen skeptisch beäugten Historikerkommission begann Österreich die Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Im Jahr 2000 schloss der damalige konservative Kanzler Wolfgang Schüssel in Washington ein Restitutionsabkommen, in dem sich Wien zu begrenzten Reparationen und zur Rückgabe geraubter jüdischer Vermögen verpflichtete.

 

Die Medien in der Alpenrepublik haben heute ihren Anteil an der Aufklärung ebenso wie Wissenschaftler in zahlreichen Forschungseinrichtungen und Archiven, deren Ergebnisse dann umgehend veröffentlicht werden. Die ungeschminkte und oft brutale Wahrheit über die Rolle Österreichs im Horrorsystem der Nazis kann man heute allwöchentlich am Kiosk in Form einer von Historikern produzierten Wochenzeitung kaufen.

 

Welche Fortschritte man bei der Aufarbeitung der "langen, miesen Geschichte" erzielt hat, machte erst in dieser Woche der Direktor der Wiener Staatsoper deutlich. "Als ich 1995 darauf hinwies, dass der letzte Operndirektor unter den Nazis derselbe war wie zur Wiedereröffnung 1955, wagte ich noch nicht, den Namen zu nennen", sagte Ioan Holender am Montag bei der Eröffnung einer Ausstellung zum "Anschluss". "Heute sag ich es: Es war Karl Böhm."

Christian Fürst, dpa  

 

 


 

Schlacht um Wien brachte Tod und Zerstörung

 Am Nachmittag des 13. April 1945 veröffentlichte das sowjetische Oberkommando in Moskau eine Sondermeldung. Wir haben "nach heftigen Kämpfen die Hauptstadt Österreichs, Wien, eingenommen", die einen "strategisch wichtigen Verteidigungsknotenpunkt der Deutschen auf dem Weg nach Süddeutschland versperrte". Die acht Tage dauernden, blutigen Kämpfe waren zu Ende, denen rund 37.000 Soldaten und 3000 Zivilisten zu Opfer fielen.

 

Spätestens seit dem Luftangriff der westlichen Alliierten am 12. März ahnten die Menschen, was auf sie zukommen würde. An diesem Tag hatten alliierte Flugzeuge Tausende Tonnen Bomben über der Innenstadt abgeworfen. 900 Zivilisten wurden bei dem Angriff getötet und zahlreiche Gebäude, darunter die weltberühmte Staatsoper, weitgehend zerstört.

 

Die eigentliche Schlacht um die von den Nazis zur Festung erklärte Stadt begann am 6. April. Das Kräfteverhältnis zwischen Rotarmisten unter Marschall Fjordor Tolbuchin und Wehrmachtssoldaten war 4 zu 1. Die Verteidiger bauten in den Außenbezirken Barrikaden auf, die von der Bevölkerung zum Teil wieder entfernt wurden.

 

Es herrschte Standrecht, Hunderte von politischen Häftlingen wurden in den letzten Kriegstagen hingerichtet. Hitlers gefürchtete Geheimpolizei (Gestapo) hängte drei österreichische Offiziere an Laternenmasten auf. Sie hatten als Angehörige der Widerstandsgruppe "05" mit den Russen vor Beginn des entscheidenden Angriffs heimlich über eine kampflose Übergabe der Stadt verhandelt.

 

Einschläge von Granaten lösten Großbrände im Zentrum Wiens aus. Das Parlament, das Burgtheater und andere bedeutende Gebäude standen in Flammen. Jedes dritte Haus wurde zerstört oder beschädigt. Der Nazi-Statthalter Baldur von Schirach setzte sich Richtung Bayern ab.

Wie Hohn klangen da Hitlers Worte: "Berlin bleibt deutsch und Wien wird wieder deutsch."

 

Am 12. April schlugen Geschosse im Stephansdom ein, dem Wahrzeichen der Stadt. Das Dach brannte vollständig aus, die große Pummerin-Glocke stürzte aus dem Glockenturm und zerschellte. Tags darauf brach der militärische Widerstand zusammen, aus den Fenstern hingen weiße Tücher als Zeichen der Kapitulation.

 

Die Kriegsbilanz für Wien ist grausam: Insgesamt 90.000 Männer waren seit Kriegsbeginn als Soldaten der Wehrmacht an der Front getötet worden. Die Nazis ermordeten mindestens 60.000 Wiener Juden. Die Stadt bot ein Bild der Verwüstung. Meterhoher Schutt blockierte die meisten Straßen durch die Brandruinen, vor denen zerstörte Panzer lagen. Auf Grünanlagen entstanden Behelfsfriedhöfe.

 

Die Hauptstadt bemühte sich um eine schnelle Rückkehr zu etwas Normalität. Schon am 30. April spielte das Ensemble des Burgtheaters wieder, und die Philharmoniker gaben am 1. Mai ihr erstes Nachkriegskonzert. Bis das offizielle Österreich mit der eigentlichen Vergangenheitsbewältigung begann, sollten jedoch noch Jahrzehnte vergehen.