Woche 40 Cinquecento

Cinquecento Kilometri

Eine Alpenquerung im Herbst

Es waberte im Tal der Adda. Der Herbstnebel, der die letzten Tage des September und seine Nachfolgetage im Oktober zeichnete und dem Menschen unmissverständlich verdeutlichte, dass der Winter seine Füße bereits in die Wettertür gestellt hatte, war durchdringend und aufdringlich. An den Nordhhängen des Valtellina, des Veltlin, machten sich die Menschen daran, die letzten Trauben für den Wein zu lesen, der das Tal ebenso berühmt gemacht hat, wie der luftgetrocknete Rinderschinken, der Bresaola. Der Nebbiolo, die Rebsorte, die im Piemont den berühmten Barolo ergibt, heißt hier Chiavennasca und verbirgt so den Namensgeber, La Nebbia - den Nebel. Verstecken braucht sich der Wein keineswegs und der Sfurzat oder auch Sforzato wird oft mit dem berühmteren "Strohwein" Amarone aus dem Valpolicella verglichen. Auf der gegenüberliegenden Seite, für den Weinanbau unbrauchbar, werden Maronen gesammelt, um sie zu rösten oder aus ihnen ein sehr nahrhaftes Mehl zu machen. Holz wird aus den Wäldern eingefahren, gespaltet und geschichtet. Je stärker man sich dem Alpenhauptkamm nähert, desto häufiger denkt man darüber nach, ob die wichtigen Pässe noch befahrbar sein werden. Wenige Tage zuvor hatte es bereits geschneit. Selbst niedrige Pässe waren gesperrt worden. Und tatsächlich steht an der Ortseinfahrt von Tirano ein handgezimmertes Schild mit dem Hinweis, dass die Bernina gesperrt sei. Reichlich spät und wenig offiziell aussehend. Die Einheimischen wissen denn auch zu erklären, dass es nicht Eis oder Schnee seien, die zu der Sperrung führten, sondern ein Rudel von Freaks, die mit ihren Oldtimern einen der schönsten Pässe Europas für sich haben wollten. Und da in der Schweiz mit Geld bekanntlich nahezu alles zu kaufen ist, zieht der Reisende den Kürzeren und muss umkehren und über einen mehr als hundert Kilometer weiten Umweg den nächsten Tunnel nach Norden nehmen. Oder aber, er entschließt sich zu der zweiten Variante und fährt über Bormio auf das Stilfser Joch ins Südtiroler Vinschgau. Dass es eine noch schönere Tour gibt, fiel dem Autor auf den ersten Passkilometern ein - spät, doch nicht zu spät.

 

Stilfser Joch und Umbrail

    

Dort, wo das Veltlin seine West-Ost-Ausrichtung verläßt und nach Norden abbiegt, wird es eng und sehr unwirtlich. Wo die Hänge es erlaubten, Skipisten anzulegen, wurde es getan, auch dort, wo es besser unterblieben worden wäre. So sorgten fürchterliche Unglücke in der Region Bormio immer wieder für Schlagzeilen und der Tenor war fast immer gleich: Raubbau an der Natur. Die Skiorte im Tal strahlen einen Charme aus, dass es fast unmöglich erscheint, dass Menschen hier freiwilllig wohnen und dafür sogar bezahlen. Wenn man all dies Elend hinter sich gelassen hat, beginnt das Vergnügen für den, der Kurven und Kehren liebt - und davon hat die Stilfser Passstraße auf beiden Seiten reichlich zu bieten. Was den begeisterten Passfahrer in der Saison zum Wahnsinn treiben kann, stinkend-schleichende, Schlangen hinter sich her ziehende Wohnwagen und lebensmüde Motorradfahrer, weicht im Herbst einer fast unwirklichen Ruhe. Und so begegneten dem Autor nur einige, wenige Motorradfahrer und zwei, drei Autos. Ein Paradies... Auf der Höhe angekommen, wolkenverhangen und kalt, ein kurzer Rundumblick. Das Skigebiet ist noch nicht in Betrieb, die kleine Welt schien mit Brettern vernagelt. Nach rechts geht es ab ins Vinschgau und nach links, ein Gedanke an längst vergangene Zeiten, biegt der Umbrai ab, ein ehemals unbefestigter Weg hinunter in die Schweiz, ins Müstair-Tal. Erinnerungen kommen hoch: Das kleine Berggasthaus mit den rotkatierten Vorhängen und den warmen Holztischen, deren Wirtin man zu Beginn der achtziger Jahre ins Tal mitgenommen hat, und die einem in Erinnerung bleiben wird wegen ihres Charmes und einer Haarpracht, die zu einem kastanienfarbigen, armstarken Zopf gebunden war. Was früher bei ungünstigen Wetterbedingungen zu einer Rutschpartie auf Schlamm und Kies werden konnte, gestaltete sich zu einer Vergnügungsfahrt. Ein alter Mann, der bergauf einsam die Pedale tretend entgegenkommt, strahlt begeistert, als man ihm den Daumen voller Bewunderung entgegenreckt. Mehr Verkehr? Noch zwei Radler und ein Auto - das war's an einem Herbstsamstag zwischen zehn und elf Uhr. Unten in der Schweiz dann wieder die übliche Betriebsamkeit mit nicht enden wollenden Autokolonnen.

 

Glurns - die kleinste Stadt Südtirols

     

Richtung Europäische Union: Wenige Kilometer weiter östlich und man kommt in Südtirol an, in einem seiner schönsten Täler, dem Vinschgau. Es ist eine geschichtsträchtige Ecke der Welt und gleich am Eingang des Tals geht der Blick nach rechts. Hier ist man vor Jahrzehnten gewandert, hat an einer Brücke verweilt, die Schauplatz vieler Schlachten zwischen den Calvinisten aus der Schweiz und den Glurner Bürgern war. Aber auch die Kaiserlichen aus Wien hatten immer wieder mitgemischt - nicht immer nur rühmlich und keineswegs nur erfolgreich. Heute präsentiert sich der Ort als lebensfrohe, intakte Gemeinde, die ihre Besucher zu nehmen weiß und ihnen auch einen wohl gestalteten Parkraum zur Verfügung stellt, direkt an der Stadtmauer. Und ja, der Schuhladen, in dem ich jahrelang einkaufte, existiert immer noch..

 Abtei Marienberg

Sie werden aus luftiger Höhe und wohl bewehrt den Schlachten im Tal zugesehen haben - die Benediktinermönche in der Abtei Marienberg. Und wenn einer ihrer Glaubensbrüder vor den wütenden Calvinisten aus der Schweiz fliehen musste, hier fand er Unterschlupf und sicherlich auch gutes Essen und Trinken, denn das Land war und ist reich. Bei manchem Zwist werden sie wohl auch hinter den Kulissen die Strippen gezogen haben, wie es ihren Machtinteressen gerade entsprach aber auch, um das eigene Überleben zu sichern, denn oft genug waren sie selbst Ziel habsüchtiger Intentionen. Entsprechend turbulent ging es hier zu von Brandschatzungen bis zur zeitweiligen, völligen Auflösung durch die Bayern zu Beginn des 19ten Jahrhunderts als verlängerter Arm Napoleons. Selbst vor der Enthauptung eines Abtes hatte man nicht zurückgeschreckt. Heute gibt sich der Bau und sein Inneres nach jahrelangen Umbauarbeiten aufgeschlossen, modern und barrierefrei und ein Besuch ist lohnend. Und wer sich dem Lebensstress auf Zeit entziehen möchte, der findet hier ein nahezu ideales Refugium - Pension Marienberg sozusagen.

   Graun - ein Kirchturm als mahnender Zeuge

 

Wenige Kilometer geht es den Berg hoch, vorbei an einem Kriegerdenkmal über die Matscher Heide bis man die Anhöhe des Reschen erreicht hat. Kaum ein Tourist, der hier nicht anhält. Segler und Surfer genießen an diesem Tag bei strahlendem Sonnenschein eine frische Brise, um fast lautlos über das sich kräuselnde eisfarbene Wasser des Sees zu gleiten, vorbei am Kirchturm der ehemaligen Gemeinde Graun. Zyniker könnten sagen, der Turm habe seine weltweite Berühmtheit ausschließlich durch das Wasser erhalten, das ihn heute umspült. Doch die Geschichte ist traurig und zeugt von menschenverachtender Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen in der Ära Mussolino ebenso wie von mangelnder Sensibilität seiner Erben nach dem zweiten Weltkrieg. Ohne auch nur die Bewohner des Dorfes Graun zu informieren hatte Rom Pläne geschmiedet, oben am Reschen Wasser zu stauen. Die Bevölkerung aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Umgebung zu vertreiben, ihre Kultur zu vernichten schien den Planern ein kleines Übel. Sicher, das Vinschgau braucht Wasser. Es hat im Jahresschnitt weniger Niederschläge als Sizilien und ein von Mönchen entwickeltes, ausgeklügeltes Bewässerungssystem der sogenannten Wale, das die Hänge durchzieht, zeugt vom extremen Mangel an Nass. Wer heute durch das Vinschgau fährt, sieht vor Wasserfontänen kaum noch die Landschaft im Tale. Dafür ruhen die Geister der Toten oben am Grund des Sees. Den Machthabern in Rom sei es gedankt, die auf die Empfindungen der Grauner Bürger, Südtiroler allemal,  gepfiffen zu haben scheinen. Und cetero censeo - die Schweizer Elektrizitätsbetriebe mischten mit, halfen den mittelschwachen Italienern aus der Klemme, denn zu Hause konnten sie ein ähnliches Projekt Splügen und Medels nicht durchziehen. Eine Schweiz, auch hier über jeden Verdacht erhaben...

  

Stunden später, viel zu viele Stunden zu spät, war das Ziel des Abends erreicht - in Illertissen, kurz vor Ulm. Auf dem Zähler des Tachos war zu lesen: 500! Fünfhundert Kilometer  - auf den Meter genau. Cinquecento Kilometri durch einen spannenden Teil Europas und die eigene Geschichte.

 

Wie um den Beweis antreten zu wollen, dass es nicht nur mit Hasselblad oder Canon & Co. geht, hier ein Panoramabild, aufgenommen mit meiner derzeitigen Lieblingskamera: dem iPhone 4s

Die sicherlich nicht ganz emotionsfreie Geschichte des Stausees können Sie hier nachlesen:

http://www.obervinschgau.org/graun/page22.htm

Diese Aufnahme entstand 1986 während eines Skiurlaubs

 

Texte und Bilder copyright Andreas Pawlouschek, nmms Oktober 2015