John Neumeiers erotisches Frühlingsopfer
Neumeiers "Le Sacre" in Hamburg wieder auf der Bühne
von Christian Fürst, nmms
Als der Tänzer und Choreograph John Neumeier vor genau 40 Jahren seine Bearbeitung von Strawinskis "Le Sacre du Printemps" (Die Frühlingsweihe) in Frankfurt auf die Bühne brachte, sprach so mancher von "Skandal". Der junge Neumeier hatte eine Solotänzerin für den letzten, ekstatischen Auftritt völlig unbekleidet auf die Bühne geschickt. Die nicht mehr zu überbeitende musikalische Dramatik des Werks ließ keine andere Steigerungsmöglichkeit mehr zu, erläuterte der US-Amerikaner.
Jetzt steht eine völlig andere Generation von Tänzern auf der Bühne, doch Neumeiers "Le Sacre" hat absolut nichts von seiner Attraktivität und Spannung verloren. Nach wie vor verlangt die Choreographie den Tänzern alles ab, und auch für die Musiker des Hamburger Opernorchesters ist das "Sacre" eine Herausforderung.
Neumeier schreibt über seine Choreographie des "Frühlingsopfers":
"Mein Ballett beschreibt vom ersten, einfachen Gehen der Tänzer auf der Bühne den Schritt von ursprünglicher menschlicher Harmonie hin zur Katastrophe, vom Tag in die Nacht, vom Licht ins Dunkel. Nach der Konfrontation mit dem Tod führt der Weg von Verdacht über Aggression und blinde Zerstörungswut zu einem Kampf aller gegen alle, Wahnsinnsausbrüche münden schließlich in einen letzten Verzweiflungsschrei".
Dabei bleibt der Vorstellungskraft des Betrachters genügend Raum zur fantasievollen Interpretation. Strawinskis gewaltige Musik "trägt" die Tänzer förmlich, führt sie von einer Ekstase zur nächsten. Menschliche Interaktionen sind selten auf zwei Personen beschränkt. Immer wieder treten sie in Gruppen auf, gespenstisch beleuchtet oder durchleuchtet werden sie selbst zu leuchtenden Fackeln.
Neumeiers "Hamburg Ballett" gehört heute unbestritten zu den bestens Ensembles der Wel. Aus der Distanz von 40 Jahren (ich sah die Uraufführung in Frankfurt) könnte man meinen, die Frankfurter Tänzer hätten das Stück noch eine Spur kraftvoller und fast brutaler aufgeführt und die Körperlichkeit der Liebe - auch der gleichgeschlechtlichen - noch exzessiver ausgelebt.
"Le Sacre du Printemps" wird vom Hamburger Ballettchef nicht umsonst in unregelmäßigen Abständen wieder ins Programm seines Ensembles aufgenommen. Es gilt zurecht als einer DER Klassiker der modernen Ballettgeschichte, in der Neumeier, der in diesem Jahr 70 wurde, schon heute einen bedeutenden Platz einnimmt.
Zusammen mit "Le Sacre" führt das Hamburg Ballett in der laufenden Saison auch seine Choreographie von "Le Pavillon d'Armide" auf. Beide Werke sind unter dem Titel "Nijinsky-Epilog" dem Leben und Werk des Ausnahmetänzers Vaslaw Nijinsky gewidmet, dessen Choreographien noch handfeste Skandale auslösten. Davon sind Neumeiers Gegenstücke inzwischen weit entfernt.
Alle Bilder und Texte copyright Christian Fürst, 2012