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FAZ: Totaler Quark

Abgesehen von den schauspielerischen Glanzstunden dieser erstaunlichen Tänzer, gibt es an diesem ganzen Abend keinen einzigen unproblematischen Aspekt. Getreu Molnárs Stück etwa zeichnet Neumeier dessen grandios unsympathischen, aber äußerst anziehenden Protagonisten überzeugend, brutal und irre sexy.
Wie bei Molnár muss Liliom dann, als er sich nach einem üblen Raub der Verhaftung durch öffentlichen Selbstmord entzieht, im Fegefeuer büßen und zurückkehren, um Frau und Sohn zu herzen - da ist schon die Vorlage reichlich volksstückhaft.

Das ist totaler Quark

Ist Ferdinand Wögerbauers Bühnenbild, das den Jahrmarkt in unterschiedlichen Verfallszuständen zeigt, einerseits wirklich sehr malerisch, mit sparsam gesetzten bunten Glühbirnen über dem alten Karussell und der über der Achterbahn thronenden NDR-Big-Band, so ist sein Jenseits ein Magritte-Wolkenkitschheim, zum Weglaufen symbolistisch-surrealistisch. Die Auftragskomposition von Michael Legrand schließlich, der bei Nadia Boulanger studiert hat und Barbra Streisands „Yentl“-Musik ebenso schrieb wie „Never Say Never“, greift nach den überhaupt höchsten Unterhaltungshimmelssternen. Mal spielt die Big Band, mal erklingen die im Graben sitzenden Philharmoniker Hamburg, beide nach Kräften zusammengehalten von Simon Hewett. Es tritt ein Akkordeonspieler (sehr gut Jakob Neubauer) mit Schiebermütze ans Portal, und in den aufregendsten Momenten ertönt eine wilde Mischung aus Big-Band-Jazz und Orchester-Moderne. Doch so kühn diese Fusionen auch erscheinen - sie hören sich letztlich doch wieder arg hollywoodtauglich an.

Die letzten Bilder eines überflüssig sentimentalen Balletts, in denen Liliom, aus dem Jenseits wie aus einer Besserungsanstalt entlassen, Glühbirnen-Sterne an seine Hinterbliebenen verschenkt, sind - mit Verlaub - totaler Quark. Kein Choreograph sollte sein Werk über seine Tänzer stellen. Genau das aber tut Neumeier.

 

Das meinte die dpa

Der durchaus riskante Coup, «Liliom» auf die Tanzbühne zu bringen, ist John Neumeier geglückt: Gerade weil er und seine Protagonisten sich nicht scheuen, Züge des altmodisch-sentimentalen Molnár-Stücks zu erhalten, sie eigenständig und fantasievoll mit unbefangen amerikanischem Kolorit zu interpretieren und so ehrlich wie gefühlsintensiv auszuspielen. Ihre Botschaft lautet: In dunklen Krisenzeiten braucht es das Licht der aufrichtigen und verständnisvollen Liebe.

 

"Hamburger Abendblatt"

Zu schmissigen Bigband-Sounds, wundervoll mondän und zugleich gekränkt und zickig ob Lilioms Abfuhr, tanzt Anna Polikarpova dessen ehemalige Arbeitgeberin Frau Muskat. Auch Edvin Revazov in seinem weißen Lackfrack brennt sich als offenbar hochneurotischer, ganzkörperlich von entzückenden Ticks besessener Konzipist im Jenseits unauslöschlich ins Gedächtnis.

Die herbe, dabei federleichte Alina Cojocaru bringt ein Frauenbild auf die Bühne, das eine ganz junge Tänzerin ebenso unmöglich verkörpern könnte wie ein weniger reifer Solist als Carsten Jung den Liliom; die beiden Hauptfiguren - auch der schön dämonisch zucktanzende Lloyd Riggins mit seinem schütteren Haar als Bösewicht Ficsur - zeigen Ballett, vermeintlich die Domäne nymphenjunger, graziöser Elfen und viriler Sprungprinzen, als eine Kunstform, in der auch Leben jenseits der 22 verhandelt werden kann. Wer jetzt Pina Bausch ruft, darf nicht vergessen, dass Neumeier kein Tanztheater macht. Auch ein so starkes Handlungsballett wie "Liliom" erzählt er fast ausschließlich mit den Mitteln des klassischen Balletts. Wie häufig in seinen Kreationen bezahlt man die Körperweisheit dieses Choreografen mit manchen allzu plakativen Bildern und Manierismen. Und so amerikanisch wie im "Liliom" zeigte er seine singuläre Bühnenkunst lange nicht mehr. Altersheimweh?

 

Liliom: Erfolgreiche Neumeier-Uraufführung in HH

Armut, Liebe und Gewalt: "Liliom" - Uraufführung des Hamburg Balletts

von Christian Fürst, nmms

 

John Neumeier, seit nunmehr 36 Jahren Ballettchef in Hamburg, hat in diesem Jahr mit seinem Mahler-Stück "Purgatorio" bereits einen beachtlichen Erfolg beim Publikum und der Kritik erzielt. Mit der aufwändigen Uraufführung von "Liliom" nach dem gleichnamigen Roman von Ferenc Molnar ist ihm dies zumindest beim begeisterungs-fähigen Hamburger Ballett-Publikum gelungen. Die Kritik reagierte dagegen skeptisch. Zu Broadway-haft, zu sentimental fanden die  Experten Neumeiers Interpretation. Einhellig dagegen waren sich die Kritker in der Beurteilung der Akteure auf der dunklen Bühne: Hier tanzte eines der weltbesten Ensembles in absoluter Höchstform.

Julie bedeckt den Leichnam ihres Geliebten Liliom mit der Tischtuch der Hochzeitstafel

Neumeier verlegte die ursprünglich in Budapest spielende Handlung von "Liliom" in die USA der wirtschafts-depressiven 1930er Jahre. Liliom (Carsten Jung) arbeitet als Karusell-Ausrufer, der in seiner Liebe zwischen Julie (Gast-Tänzerin Alina Cojocaru) und der Karusell-Besitzerin Frau Muskat (Anna Politkarpova) hin und hergerissen ist. Anders als sein Musical-Vorgänger Richard Rodgers ("Carousel") vor 65 Jahren betont Neumeier in seiner Interpretation des Romans den sozialen Aspekt der Geschichte. Der stets zur Gewalt neigende Liliom verliert seinen Job und gerät bald darauf auf die schiefe Bahn. Am Ende nimmt er sich das Leben. 

 

 Liliom ist zwischen den beiden Frauen Julie und Frau Muskat hin- und hergerissen 


  

 

Bigband und Sinfonieorchester

Für die musikalische Ausgestaltung gewann John Neumeier den französischen Erfolgskomponisten Michel Legrand, der den Choreographen Neumeier durch seine komplexe Komposition gleich vor mehrere Schwierigkeiten stellte. Schließlich wurde das fast zweieinhalb-stündige Ballett für zwei Orchester komponiert. Im Graben das sinfonische Staatsopernorchester und auf einem Podium über der Bühne die Bigband des Norddeutschen Rundfunks, die für den "Broadway"-Teil des Balletts zuständig war, gelegentlich aber zusammen mit dem Opernorchester unter der gemeinsamen Leitung von Simon Hewitt musizieren. Dass hier vor allem zu Beginn zahlreiche Anklänge etwa an Leonard Bernsteins Musical-Musik zu erkennen waren, störte die kritik, doch die Neumeier-Fans umso weniger.

 

 

Bunte Luftballons, getragen vom Luftballonmann in Pantomimengestalt, symbolisieren Freiheit - Im dunklen Hintergrund die NDR-Bigband

 

 Berührende Szenen, für manche Kritiker zu rührselig. Doch immer großartig interpretiert vom hervorragenden Ensemble mit seinen Ausnahmetänzern

 

Neumeier und Legrand gelingt es im Verlauf des Abends einen zunächst allerdings nur schwer erkennbaren Spannungsbogen zu spannen. In der tat empfindet man das Ballett zunächst als zu Broadway-lastig. Schau-Elemente, Artisten, viel scheinbar sorglose Fröhlichkeit überwiegen. Doch dann entwickelt Neumeier die Dreicksbeziehung des Super-Machos Liliom (Carsten Jung) mit der zerbrechlichen und zärtlichen Julie (Alina Cojocaru) und der selbstbewussten und fordernden Frau Muskat (Anna Polikarpova). Ein musikalischer Höhepunkt dann die Szene vor dem geschlossenen Arbeitsamt, vor dem auch der inzwischen arbeitslos gewordene Liliom ansteht. Sie wird von dröhnenden Trommelwirbeln mehrerer Schlagzeuger begleitet. Die Tänzer beweisen - nicht nur hier - schauspielerisches Talent. 

Massenarbeitslosigkeit in den USA - Liliom und die anderen fliehen vor der Gewalt der Staatsmacht

Julie und Söhnchen - "zu viel Gefühlsduselei" bemängelten fast alle Kritiker

 

 

 

Voller Spannung zunächst auch die Hochzeitsszene im zweiten Teil, auf der plötzlich Liliom erscheint, um seine Geliebte Frau Muskat zu entführen. Der Überfall scheitert und Liliom tötet sich. Spätestens hier überzieht Hamburgs Chef-Choreograph nach Meinung seiner Kritiker (auch im Publikum) das Maß der Rührseligkeiten. Für einen sehr einfühlsamen Pas des deux mit Julie lässt Neumeier seinen Protagonisten für kurze Zeit wieder auferstehen. Später dann kommt Julie mit dem kleinen Sohn Lilioms auf die Bühne, und während der Kleine Tanzschritte übt, guckt Papa aus dem hellblauen Himmel zu und ergreift den rosanen Luftballon, den ihm der Kleine schickt.

Diese sentimentalen Ausreißer veranlassten immerhin die Kritikerin der "Frankfurter Allgemeinen" zu einem weitgehenden Verriss der Uraufführung. Doch auch sie konnte nicht umhin, die überragende Leistung der Tänzer zu preisen, die die überwältigende Mehrheit der anwesenden Ballettfans für die Unstimmigkeiten der Choreographie und Dramaturgie des Stückes mehr als entschädigte.

 

Alle Bilder und Texte copyright Christian Fürst 2011